TAZ vom 21.11.2008

Besetzer pochen auf NS-Historie


Wohnfläche statt Umsonstladen und NS-Gedenken: In Erfurt ist ein Streit um eine besetzte Industriebrache entbrannt, auf der einst Teile für Krematorien gefertigt wurden.

ERFURT (TA). Der Portier im Erfurter Rathaus staunte. Zehn junge Leute in orangen Warnwesten spazierten an ihm vorbei, ausgerüstet mit Zollstock, Maßband und Schreibblöcken. Ihr Ziel war der Rathaussaal, der kurz darauf akribisch vermessen wurde. Danach verkündeten die Aktivisten in einer Pressemitteilung, das Rathaus sei als zukünftiges kulturpolitisches Zentrum geeignet. Die Aktion war der Höhepunkt eines Kampfs, der in Erfurt um ein besetztes Gelände mit einer besonderen Geschichte tobt.
Auf einer Industriebrache am Stadtrand ist seit fast acht Jahren ein ganzer Gebäudekomplex besetzt, daneben liegt ein Bauwagenplatz. Auf dem Gelände produzierte die Firma "Topf & Söhne" zur Zeit des Nationalsozialismus Gasabzugsanlagen und Krematorien für Konzentrationslager wie Auschwitz und Buchenwald. Das Projekt habe auch einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes Vorschub geleistet, argumentieren die Besetzer. Führungen über das Gelände wurden angeboten, Veranstaltungen mit Historikern organisiert. Eine Forderung der Gruppe: Ein Geschichtsort solle an den "Täterort Topf & Söhne" erinnern.

In den Häusern sind Wohnungen ausgebaut, selbst eine Bar, ein Infoladen, ein Kino und ein Umsonstladen finden sich in dem von Außen heruntergekommenen Gebäude. "Viele von uns haben über all die Jahre viel Kraft und Hoffnungen in dieses Projekt gesteckt", sagt Pascal Müller, ein Sprecher der Besetzergruppe.
Mit dem linken Biotop, das sich offensiv mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzt, könnte es bald vorbei sein. Im Frühjahr 2007 wurde das Gelände an den Mühlhäuser Bauunternehmer Helmut Golla verkauft. Der plant, das Gelände abzureissen und auf der Fläche Wohneinheiten und einen Supermarkt anzusiedeln. Lediglich das ehemalige Verwaltungsgebäude will er erhalten, um dort einen Geschichtsort zur Firma "Topf & Söhne" zu ermöglichen.
Doch die rund 30 BesetzerInnen kämpfen. Seit gut drei Monaten verweigern sie und ihre Unterstützer Vermessern den Zutritt. Gutachten und Planungen, für die bereits 100.000 Euro ausgegeben worden sind, stagnieren. Im September nannte der neue Eigentümer eine Frist von drei Monaten bis zum Abrissbeginn. Nun spitzt die Situation sich zu: Für Samstag mobilisieren die Hausbesetzer unter dem Motto "Hände weg vom besetzten Haus" zu einer Demonstration, die um 13 Uhr vor dem Erfurter Hauptbahnhof beginnen soll. In der Szene wird außerdem für einen "Tag X", dem Tag der Räumung, mobilisiert.
Die Geschichte des bedrohten Projektes begann mit einer einzelnen Besetzung. Nach mehreren Hausräumungen in Erfurt war Ostern 2001 zuerst ein einzige Haus auf dem ehemaligen "Topf & Söhne"-Gelände besetzt worden. Die verfallene Industriebrache wurde notverwaltet, der damit beauftragte Anwalt duldete die Besetzer. Und so konnten diese sich ungestört ausbreiten, ein Bauwagenplatz entstand, Konzert- und Bandproberäume wurden hergerichtet.
Bereits seit 1999 hatte sich ein Förderkreis "Topf&Söhne" für eine Erinnerungsstätte auf der Industriebrache stark gemacht, über Jahre konnten Hausbesetzer und Förderkreis eine größere Öffentlichkeit auf das Thema "Topf & Söhne" aufmerksam machen. In Berlin und Tel Aviv zeigte eine isrealische Künstlerin in einer Ausstellung Videosequenzen, in denen sie Bewohner des Hausprojektes zu dem Täterort befragte. Allerdings finden sich in den Stellungnahmen der Besetzer auch Hinweise darauf, dass eine Ausstellung, welche auf zwei Etagen beschränkt ist, nicht als ausreichend empfunden wird. "Was uns hier zeitweise gelungen ist, war lebendige Geschichsarbeit', sagt ein Unterstützer.

Helmut Golla signalisierte den Hausbesetzern nach seinem Kauf Gesprächsbereitschaft und erschien im September sogar noch einmal zu einem persönlichen Gespräch, in dem er gegenüber den versammelten Besetzern noch einmal seine Abrisspläne bekräftigte. "Die Stadt wird für euch eine Lösung finden", sagte er in diesem Gespräch an die Besetzer gerichtet. Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) und seine Stellvertreterin Tamara Thierbach (Die Linke) traten auch tatsächlich mit den Bewohnern des Gebäudekomplexes in Verhandlungen über ein Ersatzobjekt. Diese stagnierten allerdings, weil die Vertreter der Stadt auf einer Rechtsperson in Form eines Vereines bestanden, mit der sie einen Vertrag abschließen können. Das wurde allerdings von den Besetzern abgelehnt. Die Begründung: Man wolle nicht abhängig sein vom Gutdünken der Stadt. "Ich will eine friedliche Lösung", bekräftige Oberbürgermeister Bausewein. Er will das Gespräch mit den Hausbesetzern wieder aufnehmen.